ZWANZIG

Als ich bei Miles eintreffe, bin ich ein bisschen nervös, da ich keine Ahnung habe, was mich erwartet. Doch sowie ich ihn draußen auf der Veranda sitzen sehe, stoße ich einen kleinen Seufzer der Erleichterung aus, denn nun weiß ich, dass alles doch nicht ganz so schlimm ist, wie ich befürchtet habe.

Ich halte vor seiner Einfahrt an, lasse das Fenster herunter und rufe: »Hey, Miles, steig ein!«

Er sieht von seinem Handy auf, schüttelt den Kopf und sagt: »Sorry, ich dachte, ich hätte dir gesagt, dass ich mit Craig fahre.«

Mir bleibt der Mund offen stehen, und mein Lächeln erstarrt, als ich seine Worte in Gedanken noch einmal ablaufen lasse.

Craig? Honors Freund Craig? Der sexuell verwirrte Neandertaler-Athlet, von dessen wahren Vorlieben ich  erfahren habe, als ich seine Gedanken belauscht habe? Der Typ, der quasi dafür lebt, sich über Miles lustig zu machen, weil er sich dann »sicher« sein kann - dass er keiner von »denen« ist?

Dieser Craig?

»Seit wann bist du mit Craig befreundet?«, frage ich, schüttele den Kopf und blinzele ihn an.

Miles erhebt sich widerwillig und kommt zu mir herüber. Er unterbricht seine Simserei nur für ein kurzes Statement. »Seit ich beschlossen habe aufzuwachen, mich zu entfalten und meinen Horizont zu erweitern. Vielleicht solltest du das auch mal versuchen. Er ist ziemlich cool, wenn man ihn besser kennt.«

Ich sehe zu, wie sich seine Daumen wieder an die Arbeit machen, während ich versuche, seine Worte zu verarbeiten. Ich fühle mich, als wäre ich in einem verrückten, absurden Paralleluniversum gelandet, in dem Cheerleader mit Gothics plaudern und Sportfanatiker mit Theaterfreaks. Ein dermaßen unnatürlicher Ort, dass es ihn in Wirklichkeit gar nicht geben kann.

Außer dass es ihn gibt. An einer Schule namens Bay View High.

»Sprichst du vom selben Craig, der dich eine Schwuchtel genannt und dir am ersten Tag den Arm umgedreht hat?«

Miles zuckt die Achseln. »Menschen ändern sich.«

Ach was. Genau das tun sie nämlich nicht.

Oder zumindest nicht so massiv innerhalb eines einzigen Tages, es sei denn, sie haben einen sehr triftigen Grund dafür - es sei denn, ein Außenstehender, jemand hinter den Kulissen, veranlasst sie dazu, zieht sozusagen die Fäden. Manipuliert sie gegen ihren Willen und lässt sie Dinge tun und sagen, die ihrem wahren Wesen komplett widersprechen - alles ohne ihre Erlaubnis und ohne dass es ihnen überhaupt bewusst ist.

»Sony, ich dachte, ich hätte es dir gesagt, aber ich war wohl zu beschäftigt. Du brauchst übrigens nicht mehr zu kommen, ich bin versorgt«, sagt er und beendet unsere Freundschaft mit einem Schulterzucken, als wäre sie nicht bedeutender als eine Mitfahrgelegenheit zur Schule.

Ich schlucke schwer und unterdrücke den Drang, ihn bei den Schultern zu packen und zu verlangen, dass er mir erklärt, was los ist, warum er sich so benimmt, warum sich alle so benehmen und warum sie sich alle einmütig gegen mich gestellt haben.

Doch ich verkneife es mir. Irgendwie schaffe ich es, mich zu beherrschen. Vor allem weil ich den schrecklichen Verdacht habe, dass ich den Grund bereits weiß. Und wenn sich herausstellt, dass ich Recht habe, dann ist Miles ohnehin nicht dafür verantwortlich.

»Okay, gut zu wissen.« Ich ringe mir ein Lächeln ab, das ich definitiv nicht fühle. »Wir sehen uns dann«, sage ich, während meine Finger gegen den Schalthebel trommeln und ich auf eine Antwort warte, die ich in absehbarer Zeit nicht bekommen werde. Ich stoße erst dann rückwärts aus Miles' Einfahrt, als Craig hinter mir vorfährt, zweimal hupt und mir bedeutet, Platz zu machen.

 

In Englisch ist es noch schlimmer, als ich erwartet habe. Ich bin noch nicht einmal halb durchs Klassenzimmer gegangen, als mir auffällt, dass Damen mittlerweile bei Stacia sitzt.

Und damit meine ich, dass er nicht nur bei Stacia sitzt, sondern mit ihr Händchen hält, Briefchen austauscht und tuschelt.

Während ich wie eine Ausgestoßene allein hinten sitzen muss.

Ich presse die Lippen zusammen, während ich mir den Weg zu meiner Bank bahne. Dabei höre ich alle meine Klassenkameraden im Chor zischen: »Freak! Pass auf, Freak! Fall nicht hin, Freak!«

Dieselben Worte, die ich gehört habe, seit ich aus dem Auto gestiegen bin.

Ich kann nicht behaupten, dass es mich übermäßig stören würde - bis Damen mit einstimmt. Denn in dem Moment, in dem er anfängt, zusammen mit den anderen zu lachen und zu höhnen, will ich nur noch weg. Zurück zu meinem Auto und wieder nach Hause, wo ich in Sicherheit bin.

Doch ich gehe nicht. Ich kann nicht. Ich muss hier bleiben. Mir selbst versichern, dass es nur vorübergehend ist - dass das Schlimmste bald überstanden sein wird und völlig ausgeschlossen ist, dass ich Damen für immer verloren habe.

Und irgendwie hilft mir das, die Sache durchzustehen. Na ja, das und Mr. Robins' Ermahnung, sie sollen still sein. Als es dann endlich klingelt und alle hinausstürmen, ruft Mr. Robins nach mir.

»Ever? Kann ich dich kurz sprechen?«

Abrupt bleibe ich im Türrahmen stehen.

»Ich halte dich auch nicht lange auf.«

Also hole ich tief Luft und stelle meinen iPod lauter, sowie ich in sein Gesicht sehe.

Mr. Robins hat mich noch nie nach dem Unterricht dabehalten. Er ist einfach nicht der Typ, der einen dabehält, um mit einem zu reden. Außerdem habe ich die ganze Zeit gedacht, dass ich vor so etwas sicher wäre, solange ich meine Hausaufgaben mache und in Klassenarbeiten gut abschneide.

»Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll, und ich will mir hier auch nichts anmaßen, aber ich glaube wirklich, ich muss dir etwas sagen. Es geht um ...«

Damen.

Es geht um meinen einzig wahren Seelenfreund. Meine unsterbliche Liebe. Meinen größten Fan im Lauf der letzten vierhundert Jahre, der sich auf einmal total von mir abgestoßen fühlt.

Und der erst heute Morgen darum gebeten hat, sich auf einen anderen Platz setzen zu dürfen.

Weil er mich für eine Stalkerin hält.

Und jetzt will mir Mr. Robins, mein frisch getrennt lebender, wohlmeinender Englischlehrer, der keinen blassen Schimmer von mir, von Damen oder von sonst irgendwas hat, abgesehen von muffigen alten Romanen von lange verstorbenen Autoren, erklären, wie Beziehungen funktionieren.

Dass junge Liebe intensiv sei. Dass einem alles so unabdingbar erschiene, als wäre es das Wichtigste auf der Welt, solange es anhält - nur dass das ein Irrtum ist. Es wird noch viele andere Lieben geben, wenn ich nur loslasse. Und ich muss loslassen. Es geht nicht anders. Vor allem weil ...

»Weil Stalking keine Lösung ist«, sagt er. »Sondern eine Straftat. Eine sehr schwere Straftat mit ernsten Konsequenzen.« Er runzelt die Stirn und hofft, er kann mir vermitteln, wie gravierend das alles ist.

»Ich stalke ihn nicht«, sage ich und begreife zu spät, dass meine Verteidigung gegen den Stalkingvorwurf mich enorm verdächtig aussehen lässt, da ich nicht zuvor all die üblichen Fragen abgehakt habe wie: Was hat er gesagt? Warum tut er das? Was meint er damit?, wie es ein normaler Mensch tun würde. Und so muss ich schwer schlucken, als ich hinzufüge: »Mr. Robins, bei allem Respekt, ich weiß, dass Sie es gut meinen, und ich weiß nicht, was Ihnen Damen erzählt hat, aber ...«

Ich blicke ihm in die Augen und sehe ganz genau, was ihm Damen erzählt hat: dass ich besessen von ihm bin, dass ich verrückt bin, dass ich Tag und Nacht an seinem Haus vorüber fahre, dass ich ihn unzählige Male anrufe und beängstigende, zwanghafte, peinliche Nachrichten hinterlasse - was ja teilweise zutreffen mag, aber trotzdem.

Doch Mr. Robins ist noch nicht bereit, mich vom Haken zu lassen. Er schüttelt nur den Kopf und sagt: »Ever, ich will auf keinen Fall Partei ergreifen oder mich zwischen dich und Damen stellen, weil mich das im Grunde nichts angeht und es letztlich etwas ist, was ihr selbst klären müsst. Und obwohl du neulich suspendiert worden bist, obwohl du im Unterricht kaum aufpasst und deinen iPod noch laufen lässt, wenn ich dich schon lange gebeten habe, ihn auszustellen - bist du immer noch eine meiner besten und intelligentesten Schülerinnen. Und ich fände es schlimm, wenn du deine hervorragenden Zukunftsaussichten gefährden würdest, nur wegen eines Jungen.«

Ich schließe die Augen. Dabei fühle ich mich so gedemütigt, dass ich mich am liebsten in Luft auflösen und verschwinden würde.

Nein, ehrlich gesagt ist es noch viel schlimmer - ich schäme mich abgrundtief, fühle mich entehrt, blamiert, erniedrigt und alles andere, was für »vor Scham im Erdboden versinken« steht.

»Es ist nicht so, wie Sie glauben«, sage ich, halte seinem Blick stand und beschwöre ihn insgeheim, es zu glauben. »Ganz egal, was Ihnen Damen auch erzählt haben mag, es ist absolut nicht so, wie es aussieht«, füge ich hinzu und höre Mr. Robins neben all den Gedanken in seinem Kopf seufzen. Wie sehr er sich doch wünscht, er könnte erzählen, wie verloren er sich gefühlt hat, als seine Frau und seine Tochter ihn verlassen haben, wie er dachte, er könne keinen einzigen weiteren Tag mehr durchstehen - doch er fürchtet, es könnte unpassend sein, womit er Recht hat.

»Wenn du dir einfach ein bisschen Zeit lässt und dich auf etwas anderes konzentriert«, sagt er und will mir ehrlich helfen, obwohl er Angst hat, seine Grenzen zu überschreiten, »dann wirst du bald feststellen, dass ...« Es klingelt.

Ich hieve mir meinen Rucksack über die Schulter, presse die Lippen aufeinander und sehe ihn an.

Er schüttelt den Kopf und sagt: »In Ordnung. Ich schreibe dir einen Verspätungsschein. Du kannst jetzt gehen.«

 

Der blaue Mond
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